Hi und herzlich willkommen zu TextHacks! Diese Woche mit einer besonders langen Folge, die ich mir vor 15 Jahren gewünscht hätte…als ich versucht habe, an der TU Dortmund zu recherchieren, ob Studiengebühren verschwendet werden.
Die heutige Folge stammt von Daniel Drepper, der sich gleich selber vorstellen wird. Für alle, die keine 37 Hacks lesen möchten: Das sind meine Lieblings-Hacks:
Definiert eine Minimum- und eine Maximum-Geschichte (Hack 6)
Schreibt einen Brief (Hack 21)
Bevor es losgeht, folgt eine persönliche Empfehlung: Ich durfte in diesem Studiengang bereits unterrichten und die Motivation der Studierenden war extrem hoch!
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Und damit übergebe ich an Daniel:
37 Hacks für gute Recherche – die ultimative Liste für das Handwerk der Investigation
Ihr lieben Recherche-Interessierten:
Recherche ist Handwerk – das ist der wohl wichtigste Satz, den jemals jemand zu mir gesagt hat. Deshalb will ich dieses Handwerk mit diesem Newsletter an möglichst viele Menschen weitergeben.
Ich recherchiere seit rund 15 Jahren als investigativer Reporter, seit Frühjahr 2022 als Leiter der Recherchekooperation von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung. In diesen Jahren habe ich viele Recherchen selbst gemacht oder betreut, etwa die Recherche zum MeToo-Skandal um Julian Reichelt oder zu den Vorwürfen gegen Till Lindemann.
In dieser Woche erscheint ein Buch, für das ich seit dem vergangenen Sommer gemeinsam mit Lena Kampf mit mehr als 200 Menschen aus der Musikindustrie gesprochen habe: “Row Zero – Gewalt und Machtmissbrauch in der Musikindustrie”.
Wie findest Du überhaupt ein Thema?
1. Lesen! Schaue Dir Artikel, Bücher, Dokus an und achte auf offene Fragen und strukturelle Probleme. Eine Recherche ist nie zu Ende, egal wie lang oder kurz ein Text oder eine Doku ist, immer müssen Journalist*innen irgendwo aufhören zu recherchieren. Oft wird das in den Geschichten deutlich, etwa in Zitaten von Expert*innen, in nicht beantworteten Fragen, in letzten Absätzen oder Minuten, die neue Aspekte anreißen. Noch häufiger berichten Journalist*innen über Einzelfälle, recherchieren aber nicht die strukturellen Probleme hinter diesen Fällen. Wenn ein, zwei oder drei Menschen dieses Problem haben, könnte es mehr Menschen betreffen. Woran liegt das? Wer ist schuld? Wie kann ich das rausfinden?
2. Klauen! Es gibt sehr viele gute Recherchen dort draußen, die sich auf Dein eigenes Medium, Deine Region, Deinen Schwerpunkt übertragen lassen. Wenn eine Recherche in Brandenburg Erfolg hat, vielleicht ist sie auch in Bayern oder Hessen eine gute Idee? Wenn in den USA ein strukturelles Problem auftritt, vielleicht kann man die Fragen dahinter mit etwas Kreativität auf das deutsche Justiz-, Gesundheits-, Bildungssystem übertragen?
3. Zuhören! Wenn Du erste Gespräche mit Expert*innen oder Betroffenen führst, weil Du nach relevanten Themen suchst, vergiss Deine Fragen – lass die Person erzählen. Wenn Du eine Liste an Fragen vorbereitest, dann erzählt Dir die Person Dinge zu den Themen, die Du eh schon im Kopf hattest. Wenn Du stattdessen komplett offen in Gespräche gehst, hast Du die Chance, komplett neue Dinge zu erfahren. Wenn ich frage, dann ganz offen. Oft lade ich meine Gesprächspartner ein, ihre Wünsche und ihren Ärger zu teilen: Was würdest Du mir mit auf den Weg geben, wenn Du mich für sechs Monate auf eine Recherche schicken würdest? Welches Thema soll ich bearbeiten, weil es Dir seit Jahren bei Deiner Arbeit jeden Morgen auf die Nerven geht?
Wann lohnt sich Dein Thema?
4. Ein US-Kollege hat es einmal die “Scope/Harm”-Rechnung genannt. Auf deutsch: Wie viele Menschen sind betroffen (“Scope”) und wie sehr sind diese Menschen betroffen (“Harm”)? Der gleiche Kollege hat es – etwas drastischer – auf den Punkt gebracht: “Bring Me Dead Babys.”
5. Eine wichtige Frage: Was brauche ich, damit ich eine Recherche umsetzen kann? Wie realistisch ist es, dass Menschen mit mir sprechen? Wer weiß überhaupt davon? Und gibt es dazu Dokumente? Falls ja: Wer hat diese Dokumente? Und kann ich an diese Dokumente herankommen? Welche Kontakte habe ich schon und welche müsste ich neu gewinnen?
6. In der Planung von Recherchen arbeite ich gerne mit einer Minimum- und einer Maximum-Geschichte. Die Mininmum-Geschichte ist die, die ich auf jeden Fall erzählen kann. Und eine Maximum-Geschichte ist die, die im Idealfall möglich ist, die mir eine Richtschnur gibt, die mich motiviert.
Der Beginn Deiner Recherche
7. Natürlich recherchierst Du ergebnisoffen, aber um ein Gefühl zu bekommen, wohin die Recherche gehen sollte, formulierst Du Recherche-Hypothesen. Ein Beispiel aus einer früheren Recherche aus dem Bereich Justiz: Wir wollten uns das Versicherungsrecht ansehen und hatten Hinweise auf eine wichtige, große, dominierende Kanzlei bekommen. Unsere These lautete in etwa wie folgt: “Die Kanzlei arbeitet seit Jahrzehnten ausschließlich für die größten Versicherungskonzerne, um die Quote der erfolgreichen Betroffenenklagen klein zu halten. Die Anwälte versuchen zusätzlich, Richter durch Fachveröffentlichungen und gut bezahlte Einladungen zu Vorträgen sowie Behörden durch Lobbyarbeit auf die Linie der Versicherungen zu bringen.” Die These hilft dabei, Quellen zu identifizieren und einen Fokus zu behalten. Es geht uns um eine bestimmte Kanzlei, es geht um die Arbeit mit Versicherungskonzernen, es geht um den Widerstand gegen Betroffene, es geht um die Beeinflussung von Richtern und Gesetzgebern.
8. Eine Minimum-Geschichte sähe in diesem Fall so aus: Wir finden mehrere Einzelfälle, die uns beschreiben, wie es ist, gegen Versicherungen (und diese eine Großkanzlei) vor Gericht zu stehen. Eine These für eine Maximum-Geschichte sähe wie folgt aus: Die Kanzlei beeinflusst Richter und Regierung massiv im Interesse der Versicherungen. Betroffene werden dadurch systematisch benachteiligt. Kanzlei und Versicherungen schrecken vor Korruption nicht zurück. Der Justizminister weiß Bescheid, tut aber nichts dagegen. Die Erfahrung zeigt: Meistens landest Du in Deiner Recherche irgendwo zwischen Minimum und Maximum.
9. Wenn ich Dich nachts um drei Uhr wecke, kannst Du mir die drei besten Geschichten zum Thema nacherzählen? Jede Geschichte, die ich finde – und sei es ein zwölf Jahre alter Magazin-Artikel, spart mir Zeit. Ich muss die Informationen nicht noch einmal recherchieren und kann die Geschichte nutzen, um auf einem höheren Level abzuspringen.
10. Habe ich die besten Geschichten zum Thema, kann ich mich an eine Liste möglicher Ansprechpartner machen. Wer hat sich in der Vergangenheit wo zum Thema geäußert? Wer ist in welcher Form beteiligt oder war beteiligt? Wie ist die Einstellung der einzelnen Menschen zum Thema? Gibt es Betroffene? (Ex-)Mitarbeiter*innen? Konkurrent*innen? Aufsichtsbehörden? Expert*innen? Ein US-Kollege, der sich vor Jahren neu um die New Yorker Polizei kümmern sollte, hat mir einmal erzählt, dass er sich ein 1000 Seiten langes PDF mit allen erschienen Texten zum Thema gemacht und sich auf alle seine Geräte geschickt hat. Auf langen U-Bahn-Fahrten hat er die alten Texte zum Thema gelesen und sich Namen von möglicherweise spannenden Quellen notiert.
11. Fachmagazine! So unterschätzt! Zu quasi jedem Thema gibt es spezielle Communities, die sich über die nerdigsten Fragen ihres Themas austauschen. Foren für LKW-Fahrer, Fachmagazine für Arbeitsschutzbeamte, Facebook-Gruppen für Unfallopfer, LinkedIn-Seiten für Berater von Kommunen. In meinem Investigativ-Studium an der Columbia Journalism School habe ich mich mit den Steuervorteilen beschäftigt, die große Firmen bekommen, wenn sie sich in einem Bundesstaat neu ansiedeln. Diese wurden beraten von sogenannten “Site Selection Consultants”. Davon gab es in den USA wenige hundert – und sie hatten ihr eigenes, vierteljährliches Magazin.
12. Das Zwiebel-Prinzip: Grundsätzlich gilt in der Recherche – wir blättern das Thema von außen nach innen auf. Ganz außen in der Recherchezwiebel befinden sich die Menschen, die zwar vergleichsweise wenig über den konkreten Missbrauch oder die Korruption wissen, aber gerne erzählen. Häufig sind dies Uni-Professor*innen, NGOs, manchmal auch Gewerkschafter oder Politiker*innen. Diese Personen sind großartig, um sich einem Thema zu nähern. Aber Deine Recherche sollte dort nicht aufhören. Du musst möglichst zügig versuchen, tiefere Schichten der Zwiebel zu erreichen. Deshalb sollte Dein Ziel sein, eine*n Sherpa zu finden, der Dich von außen nach innen lotst. Etwa, indem Dir ein Gewerkschafter Betroffene vermittelt oder eine Uni-Professorin Dir einen Zugang verschafft zu einem Konkurrenten der Firma, zu der Du recherchierst – und die ohne die Verbindung über die Professorin vielleicht nicht mit Dir geredet hätte.
Wie kommst Du an Dokumente?
13. Der Goldstandard für eine investigative Recherche: Ein schriftlicher Belege, schwarz auf weiß. Diesen gibt es nicht für jede Recherche, aber Dokumente – im weitesten Sinne – gibt es fast immer. Das können Akten aus Behörden sein, das können interne Abrechnungen sein, das können WhatsApp-Screenshots sein. Wichtig ist, dass Du Dir einmal überlegst: Welche Art von Dokumenten gibt es und wie kannst Du an diese herankommen? Was wurde in Behörden oder Unternehmen von wem genau erfasst? Wie heißen diese Dokumente (Namen von Formularen, Fachbezeichnungen bestimmter Anordnungen) und wer hat Zugang? Welche Gesetze und Verordnungen regeln den Bereich, für den ich mich interessiere und welche Schriftstücke müssen auf Grundlage der gesetzlichen Regelungen regelmäßig erstellt werden? Welche Daten werden wo produziert? Welche Gutachten werden angefertigt?
14. Auch für Recherchen über Machtmissbrauch und (sexualisierte) Gewalt solltest Du Dich immer fragen, welche schriftlichen Belege es geben kann, selbst wenn diese nur Teile der Aussagen stützen können. Gibt es Screenshots von WhatsApp-Unterhaltungen oder Sprachnachrichten? Liegen Briefe vor, Fotos oder Tagebucheinträge? Gibt es Belege dafür, dass jemand bei einem Arzt war oder bei einer Therapeutin und dort über das Ereignis gesprochen hat? Oder gibt es Belege, die eine Geschichte in Frage stellen oder einen Teil der Erzählung falsifizieren? Auch das hilft Dir, der Wahrheit näher zu kommen.
Welche Rechte hast Du, um an Dokumente zu gelangen?
15. Datenbanken: Es gibt zahlreiche Datenbanken, die für alle Bürger*innen zugänglich sind. So werden etwa im Bundesanzeiger online alle Jahresabschlüsse von Firmen veröffentlicht und im Handelsregister lassen sich unter anderem die Eigentümer-Strukturen (und Wechsel) sowie die Geschäftsführer nachvollziehen. Journalist*innen haben zudem Zugang zu den Eintragungen im Grundbuch (Eigentümer, Kredite, geschäftliche Verbindungen) und zu Akten im Vereinsregister (Gründungsmitglieder, Vereinszweck, manchmal auch Protokolle).
16. Das Informationsfreiheitsgesetz: Alle Bürger*innen haben in Deutschland das Recht, Dokumente von Behörden zu bekommen. Die Faustregel: Alles, was mit Steuergeld bezahlt wurde, muss transparent gemacht werden. Dazu reicht ein formloser Antrag nach dem Informationsfreiheitsgesetz. Du kannst alle möglichen physisch vorliegenden Informationen beantragen. Das sind klassische Akten und Gutachten, aber auch Daten aus Datenbanken, E-Mails, handschriftliche Vermerke, Audios, Videos, SMS oder Twitter-DMs.
Dokumente kann ich erhalten von:
allen Ministerien, Behörden und Gerichten
von Firmen, an denen der Staat die Mehrheit hält
öffentlich-rechtlichen Sendern, Schwimmbädern, Bibliotheken, Kirchen, Theatern, Jobcenter, Forschungseinrichtungen, Krankenhäusern
dazu kommen Einrichtungen, an die Aufgaben übertragen wurden, die sonst der Staat erfüllen müsste, zum Beispiel der TÜV.
17. Das Problem: Oft dauert es lange, bis Du Antwort bekommst. Und: Die Behörden können bis zu 500 Euro in Rechnung stellen. Außerdem gibt es Ausnahmen. So führen die Behörden oft den Schutz persönlicher Daten, Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse oder nicht abgeschlossene Entscheidungsprozesse an, um Informationen zu verweigern. Hier hilft es, sich mit Expert*innen auf dem Gebiet zu vernetzen, etwa unter fragdenstaat.de.
18. Für Journalist*innen gibt es zusätzlich das Presserecht. Der Unterschied: Hier bekommst Du keine Dokumente, sondern konkrete Antworten auf Deine Fragen. Oft wollen Behörden keine Auskunft geben, deshalb hilft es, sich mit dem Recht auf Auskunft in den Pressegesetzen der Länder vertraut zu machen, klare Fragen zu formulieren und nachzuhaken, wenn mit Ausflüchten geantwortet wird. Manchmal hilft es, sanft, aber bestimmt, zu eskalieren. Damit der Gegenseite klar wird, dass Du Deine Rechte kennst und Dich nicht abwimmeln lässt. Hast Du eine Redaktion im Rücken, kannst Du bei wichtigen Fragen sogar mit dem Justiziar zusammen als letzte Eskalationsstufe eine Auskunftsklage vorbereiten und den Entwurf dieser Klage an die Behörde senden mit dem Hinweis, dass diese leider eingereicht werden müsse, sollte die Behörde sich nicht bis zu einer bestimmten Deadline zu den Fragen äußern. Wichtig ist dann nur, dass man dies dann wirklich wahr macht, wenn die Behörde weiterhin blockiert. Das Gute: Klagen auf Auskunft sind vergleichsweise günstig und können, wenn man eine Eilbedürftigkeit argumentieren kann, relativ schnell zum Erfolg führen.
Wie öffnest Du Menschen?
19. Der Großteil aller Quellen von investigativen Journalist*innen sind Ehemalige: Ehemalige Mitarbeiter*innen, ehemalige Freund*innen, ehemalige Liebhaber*innen. Oder aktive, aber unzufriedene Menschen. Diese Menschen kannst Du über Karriere-Netzwerke wie LinkedIn (hier ist eine Suche nach “früheren Arbeitgebern” möglich) finden, aber auch über Zeitungsberichte, über Organigramme, Telefonverzeichnisse, durch Tipps anderer Quellen.
20. Mit wenigen Ausnahmen ist mir persönlich die Motivation von Quellen egal, solange die Informationen nachprüfbar stimmen. Aber für Deine Ansprache ist es wichtig, ein Gefühl dafür zu bekommen, auf was Menschen anspringen und wie Du mit ihnen reden musst, damit sie Lust auf einen Austausch mit Dir bekommen. Hier habe ich einmal detailliert aufgeschrieben, wie ich mit Menschen spreche, die Informationen oder Erfahrungen mit mir teilen wollen:
21. Kreative Ansprache: Manchmal hilft es, Menschen kreativ anzusprechen. So hat der inzwischen etwas alterswild gewordene US-Kollege Seymour Hersh über Jahre ehemalige CIA-Mitarbeiter angeschrieben. Aus offiziellen Verabschiedungen hat er sich die Namen besorgt, hat in Datenbanken die Adressen herausgefunden und ihnen dann nette Postkarten geschrieben, in denen er sie zu einem Austausch über ihr spannendes Leben eingeladen hat. Selbst wenn nur eine von 20 Postkarten zu einem Austausch führt, lohnt sich diese Methode bereits. Ich habe schon handschriftliche Briefe an Menschen geschrieben, die am Telefon nicht mit mir reden wollten – und diese persönlich am Gartenzaun übergeben. Es kommt immer darauf an, wie Du die Quelle einschätzt und was Du glaubst, was bei ihr funktionieren könnte.
22. Vertrauen schaffen! Ich selbst führe mit möglichen Quellen grundsätzlich vertrauliche Hintergrundgespräche, in denen es um ein Kennenlernen und einen Austausch geht. Ich spreche viel über mich und meine Arbeit, über die Abläufe investigativer Recherchen, über die Bedeutung der Recherche und darüber, was ich alles schon weiß aus anderen Gesprächen oder der Lektüre von Dokumenten, Büchern, Foren.
23. Warum ich? Ich versuche der Person zu vermitteln, wer ich bin – und damit, wenn möglich, eine persönliche Verbindung zu schaffen. Wenn ich zu Arbeitsbedingungen im Handwerk schreibe, werde ich erwähnen, dass mein Vater KfZ-Mechaniker ist. Wenn es um Sport geht, lasse ich meine Vergangenheit als Langstreckenläufer einfließen. Ich erwähne persönliche Erfahrungen, Hobbies, Reisen, Freunde, gelesene Bücher – wenn ich das Gefühl habe, dass es Sinn ergibt. Ich will mich nicht einschleimen, ich verstelle mich nicht, aber ich gebe meinem Gegenüber Anknüpfungspunkte. Damit er oder sie mich nicht als fremden Journalisten wahrnimmt, der möglicherweise eine diffuse Gefahr oder Bedrohung symbolisiert, sondern als Menschen, vielleicht sogar als sympathischen Menschen mit Gemeinsamkeiten.
24. Reden, nicht fragen! Du solltest versuchen, die Person nicht zu fragen, sondern zu überzeugen. Am Ende eines solchen Gespräches muss die Person überzeugt sein, dass man Dir vertrauen kann. Und sie muss Lust bekommen, mit Dir zu sprechen.
25. Austausch! Vielleicht gibt es Dinge, die Du erzählen kannst, die spannend sind? Natürlich darfst Du damit keine anderen Quellen gefährden und keine ethischen Linien überschreiten, aber Du solltest so viel wie möglich dafür tun, dass Menschen Lust auf einen Austausch mit Dir bekommen. Bei mir kann das zum Beispiel bedeuten, dass ich Dokumente oder Material mitbringe, das die Quelle dann gemeinsam mit mir anschaut. Vor einigen Jahren habe ich bei einem Treffen mit Anwälten meine Theorie der Recherche auf eine DINA3-Seite gezeichnet. Statt auf verschiedenen Seiten eines langen Tisches zu sitzen, haben wir uns gemeinsam über das Papier gebeugt – und hatten gleich eine ganz andere Gesprächsatmosphäre.
26. Interessant sein! Du solltest versuchen, Dich so in ein Thema einzudenken, dass die Menschen idealerweise ein ähnlich vertrautes Gefühl bekommen, wie wenn sie mit einem Kollegen oder einer Kollegin ein Bier trinken gehen. Ich lasse gerne, wenn möglich, Halbsätze oder Anspielungen fallen, die zeigen – ich weiß, wovon ich rede. Sobald Dich Menschen aus dem Berichterstattungsgebiet als Insider wahrnehmen, hast Du einen wichtigen Schritt geschafft.
27. Zu Hause treffen! Am liebsten treffe ich Menschen bei ihnen zu Hause. Dort fühlen sich Menschen am wohlsten, dort können sie nicht einfach aufstehen und gehen (sondern müssen mich rausschmeißen), dort liegen im Zweifel Akten und Informationen nur einen Schritt entfernt. Ist ein Treffen zu Hause unmöglich, versuche ich trotzdem ein persönliches Gespräch möglich zu machen. Nur im Notfall (oder bei ersten, noch vagen Vorgesprächen) bleibt es beim Telefon oder Videocall. Was ich bei jedem Gespräch frage: Habe ich etwas vergessen? Gibt es dazu Dokumente? Wen sollte ich noch ansprechen? Nichts ist besser, als sich von Quelle zu Quelle zu hangeln.
28. Mehrere Gespräche! Eine Faustregel: Erst im dritten Gespräch bekommst Du die entscheidenden Informationen. Ein Gespräch baut das Vertrauen auf, ein zweites Gespräch wird deutlich konkreter, im dritten Gespräch kommen weitere Aspekte hoch – vielleicht sind Quellen jetzt erst bereit, Dokumente mit Dir zu teilen. Oft hilft es, im Laufe der Recherche mit neuen Informationen zurückzugehen zu früheren Quellen, um dort weitere Mosaiksteinchen einzusammeln.
29. Grundsätzlich hilft es, sich unabhängig von aktuellen Recherchen mit Menschen zu treffen, die mittelfristig interessant werden könnten für das eigene Themengebiet. Ein Kollege hat einmal empfohlen, jede Woche ein Mittagessen, einen Kaffee und einen Drink mit einer neuen Person zu haben (statt mit den Kolleg*innen). Das schaffe ich nicht immer, aber ich habe es im Hinterkopf und versuche immer wieder, es in meinen Alltag zu integrieren.
Wie konfrontierst Du Menschen mit Deiner Recherche?
30. Grundsätzlich muss jeder Mensch, über den Du schreibst, die Chance haben, zu allen Vorwürfen gegen ihn oder sie Stellung zu nehmen. Das heißt, dass Du am Ende der Recherche alle gesammelten Informationen, die Du veröffentlichen möchtest, durchgehst und in klaren Fragen formulierst. Diese Fragen sendest Du mit einer ausreichenden und klar benannten Frist an die beschuldigten Personen. Bei wenigen Fragen und großen Unternehmen können das mal nur 24 Stunden (oder weniger) sein, bei vielen Fragen und mit Medien eher unerfahrenen Menschen können das mehrere Tage sein. Bei dieser sogenannten Konfrontation gibst Du Dich natürlich als Journalist zu erkennen und machst deutlich, dass Du Dich in einer Recherche befindest, die ergebnisoffen ist und bei der Du mit allen Beteiligten sprechen möchtest. Hier ist eine gute Zusammenstellung über die richtige Form einer Konfrontation: Blogpost Netzwerk Recherche.
31. Wenn Du die Möglichkeit hast und die Recherche dadurch nicht gefährdet werden kann, solltest Du auf zentrale Personen früher zugehen. Du kannst dann etwas allgemeiner über das Thema Deiner Recherche sprechen und bekommst möglicherweise interessante Hintergrundinformationen. Vielleicht hat die betroffene Person eine sehr logische Antwort auf die Fragen, die Du hast – und Du kannst das Thema neu justieren, ohne Dich über Monate zu verrennen. Noch ein Vorteil eines frühen Gespräches: Tischt die betroffene Person Dir Lügen auf und Du merkst das im Laufe der Recherche, kannst Du sie in einer finalen Konfrontation darauf aufmerksam machen und sie in der Veröffentlichung der Lüge überführen.
Was darfst Du veröffentlichen und was nicht?
32. Grundsätzlich musst Du bei Veröffentlichungen zwischen Tatsachenbehauptungen und Meinungen unterscheiden. Einfache Faustregel hier: Eine Tatsachenbehauptung ist immer entweder wahr oder falsch, eine Meinung kann dagegen weder wahr noch falsch sein. Meinungsbeiträge – innerhalb gewisser Grenzen wie etwa der bewussten Schmähung oder Verleumdung – sind grundsätzlich ziemlich unproblematisch. Wir sprechen hier bei der Recherche jedoch über Tatsachen und häufig über die sogenannte Verdachtsberichterstattung, wenn es also Hinweise auf etwas gibt, aber zum Beispiel keine rechtskräftige Verurteilung. Ob Du über einen Verdacht berichten kannst, entscheidet sich anhand verschiedener Kriterien. Dabei ist wichtig zu wissen, dass vor Gericht abgewogen wird: Was spricht für eine Berichterstattung und was dagegen?
33. Wie hoch ist das öffentliche Interesse an den Vorwürfen und wie hoch das Schutzinteresse des Beschuldigten? Dazu ist sowohl die gesellschaftliche Position des Beschuldigten wichtig als auch die Schwere der Vorwürfe. Wie öffentlich lebt der Beschuldigte? Betreffen die Vorwürfe die Sozialsphäre (Arbeitsumfeld) oder die Privatsphäre oder sogar – und da wird eine Berichterstattung besonders schwierig – die Intimsphäre.
34. Das öffentliche Interesse ist umso höher, je prominenter und mächtiger die Beschuldigten und je gravierender (und systematischer) die Vorwürfe sind. Wichtig: Du kannst nicht nur über strafrechtliche Verstöße berichten, sondern auch über den Bruch politischer, gesellschaftlicher oder moralischer Normen.
35. Hast Du genug Beweistatsachen? Also: keine Gerüchte, kein Hörensagen, nicht nur eine Quelle oder die Betroffene selbst, sondern zum Beispiel weitere Personen, die darüber informiert waren, Kalendereinträge, WhatsApp-Screenshots, Dokumente. Wichtig: Auch eine Strafanzeige reicht nicht, jeder kann eine Anzeige stellen. Hat die Staatsanwaltschaft jedoch Ermittlungen aufgenommen, kannst Du das auf Deine Seite der Waagschale legen.
36. Es gibt die sogenannte Verbreiterhaftung: Was Du veröffentlichst, dafür bist Du verantwortlich. Du kannst also nicht einfach andere Medien zitieren oder andere Menschen Dinge in Zitaten behaupten lassen und diese dann verbreiten, ohne sie zu überprüfen. Auch Tatsachenbehauptungen in Zitaten musst Du prüfen.
37. Hast Du dem Beschuldigten genug Gelegenheit gegeben, sich zu allen Vorwürfen zu äußern und hast Du diese Äußerungen eingebaut? Du musst entlastende Tatsachen berichten und – vor allem, wenn sich jemand nicht äußert – selbst danach schauen, ob sich entlastende Tatsachen finden lassen. Der Text darf nicht vorverurteilend sein. Also braucht es eine ausgewogene Formulierung, aus der hervorgeht, dass die Unschuldsvermutung gilt und bei der klar zwischen Verdachtsberichterstattung und belegten Tatsachen unterschieden wird.
Das war ein erster, grober Überblick über all das, was man zur Recherche an Handwerk erlernen und in der täglichen Praxis mit Erfahrungen füllen kann. Ich hoffe, dass Euch diese Übersicht motiviert, selbst zu recherchieren – und Ideen mitgibt, wie solche Recherchen gut gelingen können.
Wer außer “Daniels Recherchebrief” andere gute Newsletter zur Recherche abonnieren will, dem empfehle ich die folgenden Newsletter:
Newsletter des Netzwerk Recherche: https://netzwerkrecherche.org/newsletter-bestellen/
Newsletter des Global Investigative Journalism Network: https://gijn.org/newsletter/
Newsletter von Sebastian Meineck:
Newsletter von Craig Silverman:
Vielen Dank, Daniel! Ich durfte sein Buch “Row Zero” übrigens vorab lesen und freue mich sehr, dass ihr das bald ebenfalls könnt…Daniel und ich gehen im Juni übrigens endlich frühstücken, nachdem er vor 1,5 Jahren die Wette verloren hat, wer zuerst 2.000 Subscriber erreichen wird.
🎈Anne-Kathrin