Starke Protokolle, schwache Protokolle - eine Analyse
Plus: Geheimtipp, um Protagonisten zu finden.
Hi und Willkommen zu Texthacks. In der vergangenen Woche hatte ich die Stilform Protokoll vorgestellt. Dutzende haben sich gewünscht, dass ich darauf detaillierter eingehe (wenn du die Stilform nicht kennst, starte am besten mit der Folge dazu).
Wie bekomme ich starken Stoff für ein Protokoll?
Protokolle leben von Anekdoten und Gedanken, von denen der Interviewte im besten Fall nicht einmal weiß, dass er sie hat. Nur allgemeine Fragen wie: Was ist deine/Ihre Meinung dazu, können helfen, einen Einstieg zu schaffen, bleiben aber schnell in Allgemeinplätzen hängen. Der Interviewer sollte versuchen, vor dem Interview zu versuchen, die Position des Interviewten zu verstehen, durch Recherche, Fantasie und das Lesen von Interviews mit Menschen mit ähnlichen Ansichten oder in ähnlichen Situationen. Und sobald der Interviewte eine Meinung äußert, immer nachfragen: Gibt es dafür ein Beispiel? Wann haben Sie das erste Mal so gedacht? Haben Sie manchmal Zweifel? Was haben Sie in diesem Moment gefühlt?
Worauf ist zu achten?
Protokolle mit mehreren Protagonisten können dem Leser schnell das Gefühl geben, dass er hier einen repräsentativen Querschnitt erfährt. Was deshalb wichtig ist: Die Protokolle nie alleine stehen lassen, sondern immer zusammen mit Hintergrundinformationen präsentieren. Wie war das Wahlverhalten in welcher Altersklasse?
Tipp
Protagonisten für Protokolle lassen sich meist online finden in einer Gruppe, die zum jeweiligen Thema passt. Auch wenn Facebook grade von Jüngeren wenig genutzt wird, so sind doch Gruppen zu Nischenthemen noch immer sehr aktiv. Wer Amerikaner in Berlin sucht, wird diese in “Americans in Berlin” finden. Ein Geheimtipp ist außerdem das Kleiderkreisel-Forum, grade für Frauenthemen.
Zwei Protokolle im direkten Vergleich
Protokolle gelten als leichte Form, ein Anruf, ein bisschen transkribieren und fertig ist das Protokoll. Dabei gibt es erhebliche Qualitätsunterschiede. Die meisten Protokolle verharren an der Oberfläche und werden damit ihrer Form nicht gerecht. Deshalb folgt eine Analyse von zwei Protokollausschnitten zu einem ähnlichen Thema.
Das Protokoll: Dieses Protokoll ist nach der Landtagswahl in Baden-Württemberg auf Bento veröffentlicht worden. Der Protagonist, 23 und Jura-Student, war für ALFA angetreten, eine Partei, die sich von der AfD abgespalten hatte. Ähnlich wie dieses Protokoll sind Aussagen von Politikern meistens nicht für diese Form zu gebrauchen, oder bedürfen exzellenter Fragetechniken, nachhaken, nach Details fragen, nicht mit Floskeln zufrieden geben.
Satz 1: Es geht weder szenisch, noch anekdotisch los und überrascht ist hier vielleicht der Interviewgeber, der Leser aber nicht wirklich.
Satz 2: Diese Aussage widerspricht sich mit Satz 1, dort war er noch überrascht, jetzt hat er damit gerechnet?
Satz 3 und 4: Es wird langsam inhaltlicher, richtig neu ist die These aber auch nicht und vor allem nicht persönlich. Dass andere Parteien “die AfD in die rechte Ecke schieben” ist eine Floskel, die ständig fällt.
Satz 4: Endlich erfahren wir etwas eigenes, der Interviewgeber ist offenbar mit einer eigenen Partei angetreten. Hier hätte es Potenzial für Szenen oder Anekdoten gegeben: Mit wie viel Prozent hatten sie gerechnet? Welche Wähler wollten sie erreichen? Wie geht es jetzt weiter? Wie und wo hat er vom Ergebnis erfahren? Wurden Fehler gemacht?
Satz 5 und 6: Das ist nicht seine Meinung sondern offensichtlich.
Satz 7: Kann man streichen.
Satz 8: Wer wünscht sich das nicht?
Satz 9, 10 und 11: Hier könnte es jetzt wieder interessant werden, eine Politik ohne Parteiinteressen, er ist nicht der erste, der das fordert, genau deshalb müsste es jetzt ins Detail gehen, damit klar wird, ob das nur eine Worthülse ist, oder er dort konkrete Vorschläge macht. Der Volksentscheid ist einer, allerdings ist auch der nicht besonders neu.
Das Protokoll: Das Protokoll stammt aus der gleichen Serie zur Landtagswahl in Baden-Württemberg, offenbart aber einen viel persönlicheren Einblick und bricht sogar mit Klischees. Der Protagonist, 24 und Wirtschaftsstudent, ist Sprecher seiner Burschenschaft.
Erster Absatz: Szenischer Einstieg, der sofort etwas persönliches über den Interviewgeber offenbart.
Zweiter Absatz: Seine persönliche politische Meinung, nicht komplett überraschend, aber pointiert und konkret vorgetragen.
Dritter Absatz: Hier wird es stark, gerade durch seinen Hintergrund in der Burschenschaft könnte der Leser vermuten, dass der Interviewgeber, oder zumindest seine Freunde, der Politik der AfD durchaus nicht abgeneigt wären. Hier wird also direkt mit einem Stereotyp gebrochen. Außerdem wird nicht nur protokolliert, dass sich die Freunde geschämt haben, sondern sehr bildhaft beschrieben, dank der “Schande” in der Timeline.
Falls ihr euch in Zukunft mehr konkrete Textanalysen wünscht, schickt mir gerne eure Beispieltexte als Antwort auf diese Mail. Viele liebe Grüße, Anne-Kathrin