Barrieren in den Köpfen senken? Blind folgen? Vorsicht vor diesen Sprachbildern
Raul Krauthausen erklärt ableistische Floskeln. Plus: Hört mir zu, wie ich Betreffzeilen zerstöre.
Hi und willkommen bei TextHacks! Heute freue ich mich über einen Gast im Newsletter, der zum zweiten Mal dabei ist: Raúl Krauthausen. Im vergangenen Jahr klärte er die Frage: Darf ich behindert sagen? Keine Folge wurde öfter geteilt. Heute schreibt er über ableistische Floskeln.
Außerdem war ich vergangene Woche in zwei Podcasts zu Gast, falls ihr mich lieber hört als lest:
🎙️Victoria Weber habe ich über das Wachstum von TextHacks gesprochen und meinen Nummer-1-Hack für jeden Newsletter verraten. Creatorway Podcast auf allen Plattformen.
🎙️Mit
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Und jetzt zurück zum Inhalt. Als Inklusions-Aktivist und Gründer der Sozialhelden, studierter Kommunikationswirt und Design Thinker arbeitet Raúl Krauthausen seit über 15 Jahren in der Internet- und Medienwelt. Folgt ihm auf allen Kanälen, außerdem hat er nicht nur einen, sondern MEHRERE Newsletter und Podcasts und ein Buch herausgebracht: “Wie kann ich was bewegen” über konstruktiven Aktivismus. Hier kommt sein Text:
Barrieren in den Köpfen senken
Ich danke Anne-Kathrin Gerstlauer ganz herzlich für die Möglichkeit, über ihre Plattform ein Thema auszuführen, das mir sehr am Herzen liegt: die Nutzung von Floskeln und ihre negativen Implikationen für die Inklusionsbewegung.
Was fehlt ist eine Rechtsgrundlage, auf deren Basis Teilhabe und Barrierefreiheit umgesetzt werden müssen. Stattdessen kann von Entscheidungstragenden noch immer auf leere Worthülsen zurückgegriffen werden, um Inklusion zu vertagen.
Eine Aussage, die beispielhaft hierfür steht, ist “Wir müssen erst die Barrieren in den Köpfen senken”.
Diese Formulierung hat eine Reihe problematischer Implikationen, die ich ausführen möchte:
Sie verlagert die Verantwortung für Veränderungen auf die Zivilgesellschaft.
Indem gesenkte Barrieren in den Köpfen zur Voraussetzung für politische Aktion gemacht werden, liegt die Verantwortung vermeintlich bei der Bevölkerung. Erst wenn ihr kognitiver Rückstand aufgeholt sei, könne man die Inklusion voranbringen, die man so gerne umsetzen würde. Diese Zuständigkeit-Verlagerung ist sehr komfortabel, denn sie lässt offen, worin diese Barrieren in den Köpfen überhaupt bestehen, auf welche Art sie objektiv messbar wären und wann genug von ihnen gesenkt wurden, um ins Handeln kommen zu können. Diese Verantwortlichmachung ist eine Farce. Denn auch wenn die Bevölkerung geschlossen feststellen würde, in ihren Köpfen so weit zu sein, hätten sie nicht das Mandat, bedeutsame und weitreichende Schritte folgen zu lassen.
Die Behauptung, es gebe zu senkenden Barrieren gegenüber behinderten Menschen, suggeriert erst deren Existenz.
Stellen wir uns vor, jemand habe noch nie im Leben behinderte Menschen als negativ konnotiert wahrgenommen. Für diese Person schafft die Aussage erst eine Wahrheit, die zuvor nicht bestand: Nämlich, dass er*sie Vorbehalte gegenüber behinderten Menschen empfinden könnte, die es vielleicht dann zu beseitigen gilt. Je stärker diese Suggestionen sind, desto mehr werden die Behauptungen zu einer eigenen Überzeugung, die im Nachhinein schwer zurückverfolgt und korrigiert werden kann. Ähnlich ist es mit Menschen, die bereits negative Annahmen getroffen haben. Sie werden durch die Phrase glauben gemacht, dass ihre Haltung die der gesellschaftlichen Mehrheit abbilde. Ihre Zweifel werden dadurch erst legitimiert. Ich finde es anmaßend zu glauben, dass die meisten Menschen Barrieren in den Köpfen haben. Dieses Narrativ muss ein Ende finden. Denn bis wir eine Definition haben, worin diese Barrieren überhaupt bestehen, sowie ein objektives, wissenschaftliches Instrument, das sie messbar macht, ist ihre Existenz nichts mehr als eine unbewiesene These.
Sie impliziert keine Handlungskonsequenz
Die Floskel “Wir müssen die Barrieren in den Köpfen senken” lässt konkrete Vorschläge vermissen, wie eine Senkung dieser Barrieren gelingen könnte. Nach dem Motto: Diese fünf Dinge kann jede*r einzelne tun, damit wir XY erreichen. Stattdessen wird nur ein Missstand angeprangert und die Senkung der Barrieren in den Köpfen als vages Ziel instituiert. Gängig sind auch Aufklärungskampagnen, die darüber informieren, dass behinderte Personen auch vollwertige Menschen und wichtige Teile der Gesellschaft sind. Die Bevölkerung kann sich ertappt oder andächtig unter diesen Aussagen versammeln, geläutert nicken und klatschen, und muss sich dennoch nicht verpflichtet fühlen, etwas zu tun.
Die größte Problematik für behinderte Personen besteht nicht in den mentalen Barrieren ihrer Mitmenschen oder dass die Bevölkerung nicht genug über das Leben mit Behinderung aufgeklärt wurde, sondern in den real existierenden Barrieren ihrer Umwelt.
Als behinderter Mensch würde ich daher nicht als ersten Handlungsschritt ein Umdenken der Gesellschaft fordern, sondern damit beginnen, barrierefreie Teilhabemöglichkeiten umzusetzen. Denn wirkliches Umdenken entsteht nicht durch Plakate, Aufklärungskampagnen oder Spots, sondern nur durch Begegnung.
Die Senkung der Barrieren in den Köpfen ist also eine Konsequenz von Inklusion, und keine Voraussetzung dafür.
Was das für deine Texte bedeutet
Schreibende setzen den Ton und sind Sprachrohr für politische und gesellschaftliche Inhalte.
Daher bitte ich dich, auf folgende Dinge zu achten: informieren, detektieren, appellieren.
Informiere dich über die Verwendung politischer, gesellschaftlicher Floskeln und den Schaden auf marginalisierte Gruppen. Insbesondere im Bereich von Behinderung gibt es eine lange Reihe an Formulierungen und Narrativen, die mehr Schaden anrichten, als dass sie von Nutzen sind. Floskeln sind darunter nur ein Teilaspekt.
Bei Unsicherheiten: Leidmedien.de führt Begriffe aus dem Kontext Behinderung auf, definiert sie und ordnet sie ein. https://leidmedien.de/begriffe/ Das Team von Leidmedien bietet darüber hinaus Schulungen zu diskriminierungsfreier Sprache an.
Erkennen: Registriere Floskeln, wenn sie von anderen Menschen genutzt werden – insbesondere dann, wenn diese Personen oder Institutionen Entscheidungsgewalt haben. Stelle dir folgende Fragen:
Stimmt die Prämisse der Aussage? Welche Behauptungen (über marginalisierte Menschen) stecken in der Äußerung? Recherchiere, ob diese Annahmen stimmen und ob die Ausführungen überhaupt eine valide Grundlage haben.
Wird Verantwortung übernommen oder auf andere Menschengruppen / Umstände / Personen abgewälzt? Haben diese Instanzen überhaupt das Mandat, etwas zu verändern? Wer hat wirklich die Macht?
Werden Handlungsschritte eröffnet und wenn ja, wie konkret sind diese? Kann man überhaupt feststellen, ob wirkliche Handlungen aus den Versprechungen hervorgegangen sind? Gibt es ein definiertes und messbares Ziel?
Manchmal maskieren sich Floskeln auch als Entschuldigungen oder Beteuerungen, das Anliegen “mit Ernsthaftigkeit zu verfolgen und intern prüfen zu lassen”. Doch letztlich folgen daraus selten wirkliche Konsequenzen. Wenn keine nachvollziehbaren Schritte benannt werden oder folgen, ist dies nur ein einfaches sprachliches Werkzeug.
Appellieren: Wenn du eine solche Floskel aufspürst, fordere konkrete Handlungsschritte ein. Verlange bei Bedarf klare und spezifische Angaben zu den beabsichtigten Maßnahmen. Hake regelmäßig nach und baue Druck auf, um Untätigkeit zu erschweren. Und wenn du Aussagen entdeckst, die problematisch und schädlich sind, schlage präzisere, diskriminierungsfreie Begriffe vor.
Ich danke dir für die Aufmerksamkeit und ich danke Anne-Kathrin Gerstlauer für ihre Plattform. Euer Raúl
Vielen Dank, Raúl. Das war’s für heute. Wir sehen uns hier kommenden Montag wieder, liebe Grüße, Anne-Kathrin
Ich stimme insofern gerne zu, als dass unsere Politik an dieser Front, wie auch an vielen anderen, versagt. Was ich schwierig finde ist die Prämisse, die Verantwortung für Veränderung solle *nicht* bei der Zivilgesellschaft liegen. Ich lebe noch nicht unglaublich lange aber meine Beobachtung ist, dass unsere Politiker bei fast jedem Problem, dass sie anfassen mehr Schaden anrichten als Gutes.
Ich würde sogar argumentieren, dass wir wieder mehr dahin gehen sollten, dass die Menschen mehr Verantwortung für sich und ihr Umfeld, wie auch ihre Nachbarn übernehmen und sich zusammentun um das Leben für alle lebenswerter zu machen. Nur Eigenverantwortung kann zu einem glücklichen Leben führen.
Aufgezwungene Inklusion ist ein zweischneidiges Schwert und kann schnell zu Widerstand in den Köpfen und -viel schlimmer noch: Gefühlen führen.
Ich nehme jetzt einfach mal mich als Bsp.: ich bin mit einem (geistig)behinderten Bruder aufgewachsen den ich über alles Liebe. Trotzdem spüre ich immer wieder Berührungsängste gegenüber anderen Behinderten die ich treffe. Nicht selten schäme ich mich dafür. Doch politisch, gesetzlicher Zwang würde da, in meinem Fall mehr Schaden anrichten als irgend etwas anderes.
Würden mir - im Extremfall - zum Beispiel die vorgeschlagenen Sprachbilder aufgezwungen bzw. verboten werden, würde das vor allem zu einem führen: Groll. Meine Verantwortung wäre es dann diesen Groll nicht auf Behinderte im allgemeinen zu projezieren. Und im direkten Gegenüber würde mir das wohl auch gelingen aber im großen und Ganzen wäre es schwer mich dem zu entziehen. Mehr als Genug Menschen würden diesen Groll wahrscheinlich sogar direkt mit dieser Bevölkerungsgruppe in Verbindung bringen.
Ich stimme definitiv zu, dass wir mehr Bewusstheit für Sprache und Worte schaffen sollten! Doch dazu gehört für mich auch die Unterscheidungsfähigkeit ob jemand gerade wörtlich oder metaphorisch zu nehmen ist. Denn zB. mythische und mystische Sprachbilder tragen Kraft in sich (deswegen faszinieren uns Mythen und Sagen seit Anbeginn der Zeit), die verloren gehen würde wenn ich zB. blind durch unhinterfragt ersetzen würde denn das Bild und die einhergehenden Assoziationen gehen verloren. Was an andere Stelle wiederum gut und wichtig sein kann.
Zusammenfassend halte ich das Werkzeug der "Sprachpolizei" für eines was zwangsläufig scheitern muss. (Egal ob per Zwangsverordnung oder Aktivismus)
Für mich gilt es hier an beiden Enden zu arbeiten. Zum einen an emotionaler Bildung - Wer sich nicht angegriffen fühlt hat viel mehr Einfluss tatsächlich etwas zu ändern. Zum anderen ganzheitliche Bildung zum Thema freie und bewusste Sprache sowie zwischenmenschliche Kommunikation.
Oder: Wie verstehe ich was der andere meint anstatt mich wegen dem was er sagt angegriffen zu fühlen und wie kommuniziere ich so, dass der andere versteht was ich meine.
Und ja, dazu gehört auch darauf hinzuweisen, dass es in gewissen Texten und Reden von Vorteil sein kann auf solche Sprachbilder zu verzichten.
Danke für die Denkanstöße!
Danke für die Gelegenheit